Um 1895 war Diessbach ein Dorf von rund 1200 Einwohnern mit gegen 250 Gebäuden, schön um die Kirche gruppiert und dem Dorfbach entlang, versteckt hinter Obstbäumen, Linden, Ulmen und Saarbäumen. An den Dorfbrunnen wurde das Vieh getränkt, hier holte man das Wasser für den täglichen Bedarf, wusch die Wäsche und tauschte Neuigkeiten aus. Nachrichten aus der weiten Welt brachten durchziehende Fuhrleute oder die Zeitung, welche mittwochs und samstags erschien. Telegraphieren konnte man seit 1870, der erste Telephonanschluss folgte 1893. Die je nach Wetter staubigen oder morastigen Strassen waren belebt von Viehherden, Schafen, Militär, Fuhrwerken, nicht selten vier- oder sechsspannig. Die erste Käserei im Dorf war1852 gegründet worden. (Die Wandlungen in der Landwirtschaft wären ein eigenes Kapitel wert, dies würde aber den hier vorgefassten Rahmen sprengen.) Zum ebenfalls seit 1852 bestehenden Postbetrieb Burgdorf- Thun wurde 1884 ein Kurs Kiesen-Diessbach eröffnet, gleichzeitig auch Kurse nach Linden und Kreuzstrasse (Konolfingen). Nächste Bahnstationen waren Konolfingen und Kiesen. Wir wissen aber auch von Diessbachern, die in der Regel in Wichtrach einstiegen, und von andern, die zu Fuss nach Bern z'Märit gingen, ihre Waren auf einem Leiterwägelchen hinter sich herziehend. Die gut unterhaltenen Über- landstrassen waren auf weite Strecken von Hecken gesäumt.
Was uns heute verträumt-romantisch vorkommen mag, war Alltag, war Mühe und Arbeit; die Sorge ums tägliche Brot nahm im Denken der Menschen grösseren Raum ein, beanspruchte wesentlich mehr Zeit als heute. Neues wurde geprüft und dienstbar gemacht, und während noch fast alle Handwerker neben ihrem Beruf einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb führten, begann sich bereits der Wandel vom Bauerndorf zum Industrieort abzuzeichnen. (Mehr darüber in den früheren Jubiläumsschriften und im Vorwort zur Werbebroschüre von 1976.)
Die sich anbahnenden gesellschaftlichen Veränderungen wurden, wenn auch vorwiegend mit Ablehnung, auch hier wahrgenommen. Ein Diessbacher Lehrer äusserte 1893 seine Besorgnis über das "sociale Ge- spenst", und sein Amtsnachfolger notierte im selben Jahr mit Genugtuung die Nachricht von der Verhaftung des Arbeitersekretärs Wassilieff in Bern. Ein weiter Weg war noch zurückzulegen bis zu den ersten Gesamtarbeitsverträgen, zum Friedensabkommen der Metall- und Uhrenindustrie (1937) und der Einführung der AHV (1948).
Der wirtschaftliche Aufschwung, der nach einer Zeit der Stagnation in der Schweiz um 1895 zu verzeichnen ist, machte sich, zwar vorerst nur in bescheidenem Masse, auch in Oberdiessbach bemerkbar. Längs der Kiese und des Dorfbachs, deren Wasserkraft seit Jahrhunderten zum Betrieb von Getreidemühlen genutzt worden war, siedelten sich vorerst kleine Gewerbebetriebe an; die Bäche wurden wie anderswo zu Pulsadern der aufkommenden Industrie. Der aufmerksame Spaziergänger kann noch da und dort Anzeichen von Stauvorrichtungen und Wasserleitungen entdecken, die auf einstige Gewerbebetriebe hinweisen. (Im Mai 1995 wurden im Raum Sattlerstock-Bahnhof die letzten sichtbaren Überbleibsel des Sagibaches abgetragen. Gleichzeitig war zu vernehmen, dass die Turbine der letzten von einst sieben Mühlen wieder in Betrieb genommen werden soll zur Erzeugung von Elektrizität für die Wohnungen im renovierten Gebäude.) In der zweiten Jahrhunderthälfte begann das Dorf über den eigentlichen Kern hinauszuwachsen und sich in Nord-Süd-Richtung auszudehnen, längs der neuen Staatsstrasse (1854). Im Jahr 1895 wurde der Kirchturm auch auf der Nord- und Südseite mit Zifferblättern versehen, damit alle Diessbacher ablesen konnten, wie spät es war.
Die Zeichen der Zeit wurden erkannt. Die aufkommende Massenproduktion, die industrielle Herstellung von Gütern in Fabriken und Grossbetrieben brachte manche Werkstatt, manchen Beruf in Gefahr oder zum Verschwinden. Wer überleben wollte, musste dieser Entwicklung Rechnung tragen. Es galt, sich die neuen Errungenschaften der Technik nutzbar zu machen und andererseits ein vielerorts beklagtes "fast unumschränktes Pfuschertum" zu bekämpfen. Eine Voraussetzung dazu sah man in der besseren Ausbildung der jungen Berufsleute.
Denn die Ausbildung und rechtliche Stellung der Lehrlinge lag im argen. Die Bedingungen der Berufslehre waren noch nicht verbindlich geregelt, sondern gegenseitiger Vereinbarung überlassen, insbesondere die Höhe des Lehrgeldes. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Lehrmeister gleichzeitig Kost- und Logisgeber war und in der Regel auch für Kleidung und Schuhwerk aufkam. Ein Lehrling, der das Lehrgeld nicht aufbrachte, konnte es durch eine verlängerte Lehrzeit abverdienen. Am 30. Dezember 1894 schlossen sich auf Einladung von Sekundarlehrer Flückiger eine Anzahl Handwerksmeister zusammen "zur Besprechung der Gründung eines Handwerkervereins und im weitern zur Errichtung einer Handwerkerschule".
Während die andern Dorfvereine schon bestanden und, jeder auf seine Art, das kulturelle Leben förderten, setzte sich der neue Verein zum Ziel, für die Ausbildung in handwerklichen Berufen solide Grundlagen zu schaffen. Der Handwerker- und Gewerbeverein war in seinem Anlass und Anfang ein Schulverein.